Die aktuelle Pandemie ist eine Riesenherausforderung für unser Schul- und Bildungssystem. In einem „Kommentar der Anderen“ im „Standard“ bin ich auf einige Aspekte eingegangen und habe einige Versäumnisse der letzten Monate thematisiert. Einige Problemfelder sind nämlich nicht oder viel zu zaghaft angegangen worden. Das könnte sich in den nächsten Monaten bitter rächen.

Hier der Link zum Text im „Standard“ („Schule und Corona: Kein Kind zurücklassen!“) und zum Nachlesen auf dieser Seite:

Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Schultag? Bei vielen werden Erinnerungen wach: Als Lehrer und Schulleiter habe ich miterlebt, mit wie viel Vorfreude und Anspannung Kinder und Jugendliche aus den Ferien zurückgekehrt sind.

Diesmal ist dieser Tag nicht nur für die Kinder, sondern auch für Eltern, Lehrkräfte, Direktorinnen und Direktoren etwas Besonderes. Die Pandemie fordert alle Beteiligten, zumal es an unseren Schulen ab September nach dem improvisierten „Schichtbetrieb“ endlich wieder „Vollbetrieb“ geben soll. Für die fast 1,2 Millionen Kinder und Jugendlichen und die 130.000 Lehrkräfte gilt somit: Die Klassenzimmer sind wieder voll, Musik und Sport wieder Teil des Stundenplans.

Wir erfahren derzeit leider nicht viel darüber, wie die Vorkehrungen im Fall von Schließungen konkret aussehen: Haben alle Schülerinnen und Schüler taugliche Endgeräte und einem Internetanschluss? Wurden Lehrende im digitalen Lernen nachgeschult? Gibt es Pläne für jene Lehrenden, die zur Risikogruppe zählen und ab Mitte Mai ohne Aufgabenbereich zu Hause gesessen sind?

Wie das Kaninchen auf die Schlange schauen alle auf die von der Regierung angekündigte „Ampel“: Grün, Gelb, Orange oder gar Rot? Letzteres bedeutet natürlich Schulschließung und Homeschooling – wohl im gesamten betroffenen Bezirk. Was aber, wenn es „orange“ oder „gelb“ blinkt?

Und die Maskenpflicht? Die Vertretung der Lehrerschaft ist mit guten Gründen dafür, Minister Heinz Faßmann mit guten Gründen dagegen. Zu bedenken gilt jedenfalls, dass fast die Hälfte der 130.000 Lehrkräfte über 50 Jahre alt ist und somit zur Covid-19-Risikogruppe gehört.
Mangelnde Infrastruktur

Eine Lehre aus dem Lockdown ist, dass beim Homeschooling die Benachteiligung von Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen verstärkt wurde. Sie leben oft in zu kleinen Wohnungen, haben bei Problemen kaum Ansprechpartner, und es mangelt oft an der Infrastruktur wie Laptop oder Internetzugang. Ein „Chancenindex“ wird von der Politik seit Jahren versprochen, er wäre heute dringender denn je, um das Geld effizient dort einzusetzen, wo es am dringendsten gebraucht wird.

Immerhin verhandeln die Regierungsparteien jetzt darüber, in den Schulen „Lernstationen“ einzurichten, um Kindern bei einer erneuten Einführung des Homeschooling zumindest in den Schulen ein adäquates Lernumfeld anbieten zu können.

Etliche Retro-Maßnahmen aus der Vergangenheit allerdings bleiben auch heuer unangetastet: Die kontraproduktive generelle (!) Separierung von Kindern mit Deutsch-Defiziten verschärft deren an sich schon schwierige Situation in der Schule noch zusätzlich. Sie brauchen mehr und nicht weniger Kontakt mit Deutsch sprechenden Kindern.

Bei der Einführung des Ethikunterrichts ab der neunten Schulstufe hat man eine große Chance vertan. Statt alle Jugendlichen unabhängig von der Konfession über Gesellschaft und Wertvorstellungen diskutieren zu lassen, werden sie separiert. Dass Religions- und Ethikstunde – wie versprochen – grundsätzlich gleichzeitig stattfinden werden, ist kaum praktikabel. Ich wünsche den Stundenplanverantwortlichen an unseren großen Schulen jedenfalls viel Vergnügen!
Antiquiertes System

Man hat in den letzten Jahrzehnten in Österreich im Schulbereich viel herumgedoktert, aber nicht wirklich reformiert. Eine grundlegende Neugestaltung unseres antiquierten Systems ist ebenso unterblieben wie eine Aufwertung der Kindergärten.

Um allen Kindern annähernd gleiche Chancen zu geben, muss man sehr früh ansetzen. Viele Studien – vor allem aus den USA und Großbritannien – belegen das. Eine frühkindliche Bildungsintervention bringt nachweislich langfristig positive Effekte, bessere Lernleistung und höhere Motivation.

Auch für das zweite Problemfeld gibt es massenhaft wissenschaftliche Literatur und praktische Evidenz. Fast alle Fachleute sind sich darüber einig, dass die viel zu frühe Trennung der Kinder ab der Volksschule pädagogisch unverantwortlich ist, das Bildungsbudget belastet und zu einem Kompetenzwirrwarr führt.

Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Und die Vorbilder sind nicht weit weg: Eine Exkursion mit der damaligen Bildungsministerin Sonja Hammerschmid und den Bildungssprechern aller Parteien vor einigen Jahren nach Südtirol war beeindruckend – aber leider folgenlos. Das dortige Modell der Gesamtschule integriert auch Kinder mit Behinderungen, bringt bessere Ergebnisse im Spitzenbereich als unser Gymnasium und hat zudem deutlich weniger „Bildungsverlierer“.
Beinharte Klientelpolitik

Wer also über den bildungspolitischen Tellerrand blicken möchte, muss diese Themen angehen: Wir brauchen besser ausgestattete Kindergärten und Krippen sowie ein Ende der widersinnigen Trennung von Kindern schon in ihrem ersten Lebensjahrzehnt.

Bildungspolitik ist bei uns ideologiebefrachtet und sind somit ein politisches Minenfeld. Aber wenn IV und ÖGB einmal einer Meinung sind und in Bundesländern wie Vorarlberg sogar alle Parteien, dann scheint es in der Gesamtschulfrage doch viel eher an beinharter Klientelpolitik der AHS-Gewerkschaft zu liegen als an weltanschaulichen Fragen. Warum nicht zumindest dort eine Modellregion zur Gemeinsamen Schule erleichtern, wo Konsens über deren Notwendigkeit herrscht?

Bei aller Wichtigkeit eines professionellen Krisenmanagements in der Corona-Pandemie – unser Bildungssystem braucht dringend grundlegende Weichenstellungen in die richtige Richtung, damit wir auch wirklich kein Kind zurücklassen! (Harald Walser, 12.8.2020)