Wer wie Bundeskanzler Sebastian Kurz in Yad Vashem Verantwortung für die Geschichte einmahnt und heute Flüchtlinge in Moria im Dreck schlafen lässt, hat etwas nicht richtig verstanden.

Die österreichische Flüchtlingspolitik habe ich unter dem Titel „Gewissen(los)?“ in meiner Kolumne in den „Vorarlberger Nachrichten“ thematisiert – gerade im Hinblick auf unsere Geschichte.

Silvio Raos bringt das ebenfalls in den VN zeichnerisch auf den Punkt.

„Wir sind heute nur hier, weil es damals Menschen gegeben hat, die unseren Großeltern geholfen haben.“ Das sagten Amber Weinber und Rouven Margules letzte Woche. Sie sind Nachfahren von Juden, die dem Nazi-Terror durch Flucht entkommen konnten.

Das Mauthausen-Komitee hat das Thema aufgegriffen und will gemeinsam mit Enkeln jüdischer Holocaust-Überlebender heutigen Flüchtlingskindern helfen. Österreich sei ein sicheres und wohlhabendes Land, meinte der Vorsitzende Willi Mernyi: „Wenn wir uns trotzdem weigern, hungernde und frierende Flüchtlinge – unter ihnen viele Kinder – aufzunehmen, haben wir aus unserer Geschichte nichts gelernt.“

Was für ein Gewissen?

Viele Organisationen von der Katholischen Aktion bis zum ÖGB unterstützen das ebenso wie etliche Einzelpersonen. Bundeskanzler Kurz hingegen sagt klar Nein zur Aufnahme von Flüchtlingskindern: „Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.“ Außenminister Alexander Schallenberg vergreift sich sogar massiv in der Wortwahl und faselt abwertend von einem „Geschrei nach Verteilung“.

Damit stehen beide im Widerspruch zum deutschen Innenminister Horst Seehofer. Er war vor allem für seine rechten Sprüche bekannt, orchestriert derzeit aber dennoch eine Aktion zur Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus Moria. Immerhin zehn Staaten sind bereit zu helfen. In Österreich blitzte der CSU-Mann allerdings ab. Wer ist da „gewissenlos“?

Die Menschen aus Syrien oder Afghanistan flüchten nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil ihr Leben bedroht ist. Wie sonst ist zu erklären, dass sie den für sie und ihre Kinder lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer wagen?

In Wien steht laut OGM-Umfrage eine Mehrheit hinter die rot-grüne Stadtregierung, die Flüchtlingskinder aufnehmen will. Auch viele ÖVP-Bürgermeister*innen sind bereit dazu – und sogar der FPÖ-Stadtchef von Hohenems.

Was für ein Realismus?

Bundeskanzler Kurz hingegen verlangt „realistische Positionen“ und betont, dass wir nicht die ganze Welt retten können. Das können wir wirklich nicht. Der Kanzler sollte aber an seinen Besuch vor zwei Jahren in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem denken. Dort hat er einen Satz aus dem Talmud lesen können: „Wer ein einziges Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.“

Damals hat Kurz betont, Österreich sei sich viel zu spät seiner Geschichte und Verantwortung bewusst geworden. Das galt und gilt nicht für alle Menschen: Vorarlberger Fluchthelfer wie Edmund Fleisch, Meinrad Juen, Tobias Feurstein, Rudolf Egle und viele andere haben schon in der NS-Zeit Menschenleben gerettet und das teilweise – wie im Fall Feurstein – mit dem eigenen Leben bezahlt. An ihnen sollten wir uns orientieren, zumal wir es heute zum Glück viel leichter haben.