Neugebauer_raketaDie jungen Wilden in der ÖVP trauen sich was: Eher unbemerkt von der Parteiführung schmuggeln sie in das neue Parteiprogramm eine Formulierung, die auf „die Einführung der gemeinsamen Schule der 10- bis 14-Jährigen“ hinausläuft. Das war im Jahr 1975! Erst nach der Beschlussfassung gingen die Wogen parteiintern hoch, man einigte sich schließlich auf das Totschweigen des Themas. Das schilderte vor einiger Zeit jemand, der es wissen muss, weil er dabei war: Bernd Schilcher.
Heute und somit 40 Jahre später wird auf dem ÖVP-Parteitag der jahrzehntelange bildungspolitische Retrokurs der Schwarzen parteiprogrammatisch in Beton gegossen: Die aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammende Schulform des achtjährigen Gymnasiums wird zum Partei-Dogma erhoben.
Einerseits will sich die ÖVP als Partei der Reform darstellen – man denke etwa an den Auftritt Reinhold Mitterlehners auf dem Vorarlberger Landesparteitag in Sachen Schulreform: „Wir haben zwar im Parteiprogramm das Gymnasium noch erwähnt, sind aber auf der anderen Seite offen für neue Entwicklungen.“ Andererseits blockiert sie jede kritische Auseinandersetzung mit dem Schulsystem. Verantwortlich dafür zeichnet vor allem Staatssekretär Harald Mahrer. Er hat mehrfach bekundet, er finde es „geradezu obszön“, wenn in Zeiten wie diesen über Strukturen im Bildungssystem geredet werde. Es lohne sich nicht, „über Schulstrukturen, föderale Zuständigkeiten oder Klassengrößen zu streiten“.
Schade, dass Mahrer und seine Mitstreiter nicht ein wenig im Nationalen Bildungsbericht geblättert haben, denn dort hätten sie Bemerkenswertes entdeckt: Kommt ein Kind mit schlechten Startbedingungen in eine Klasse mit einem hohen Anteil an benachteiligten Kindern, entstehen genau jene desaströsen Ergebnisse, die wir immer wieder beklagen. Umgekehrt gilt: In sozial gut durchmischten Schulen erzielen Kinder aus bildungsschwachen Familien viel bessere Ergebnisse als sozial vergleichbare Kinder an so genannten „Brennpunktschulen“. Wenn also das Gymnasium die Besten „absaugt“, verschärft man das Problem an den Haupt- und Neuen Mittelschulen. Wie – außer mit einer Strukturreform – kann man das beseitigen? Die Lehrkräfte können es jedenfalls mit noch so viel Einsatz nicht lösen.
In puncto Chancengerechtigkeit sind, dem Nationalen Bildungsbericht zufolge, die Ergebnisse des heimischen Bildungssystems beschämend. Bildungsverlierer sind vor allem – aber nicht nur – Kinder mit migrantischem Hintergrund.
Das hängt auch mit der Art der Auswahl der „Guten“ und „weniger Guten“ zusammen: Sie ist weder gerecht noch vom „Leistungsgedanken“ geprägt. Das Kriterium, das über die Aufnahme von Kindern in die AHS-Unterstufe entscheidet, sind die Schulnoten. Und die sind nur sehr beschränkt leistungsbezogen. Der österreichische Expertenbericht zur PIRLS-Studie gibt Auskunft: Die 20 Prozent der schlechtesten Schülerinnen und Schüler mit der Deutschnote „Sehr gut“ haben dieselbe (!) Testleistung erzielt wie die besten aus der Gruppe mit einem Nicht genügend. Noten sind also offensichtlich ungerecht, zudem haben sie nichts mit einer Bewertung von Lernfortschritten und erreichtem Wissen zu tun.
In den Volksschulen brauchen wir sie aber vor allem, um die Kinder schon mit zehn Jahren zu trennen. Kinder von Eltern aus bildungsnahen Schichten haben da massive Vorteile – Lehrerinnen und Lehrer der Volksschule geben gerne Auskunft über den Druck, dem sie in der Notengebung ausgesetzt sind.
Darum geht es in Wirklichkeit: Der Kampf der ÖVP gegen eine grundlegende Schulreform ist längst ein Klassenkampf ums Klassenzimmer geworden. Die Ober- und Mittelschicht möchte unter sich bleiben, im Wohnviertel genauso wie in der Schule. Wenn das garantiert ist, stört auch die vielfach nachgewiesene mangelnde Leistungsfähigkeit des gegenwärtigen Systems nicht.
Wer den Fortbestand des traditionellen achtjährigen Gymnasiums als bürgerliche Errungenschaft des 19. Jahrhunderts und als Hort der humanistischen Allgemeinbildung verteidigt, hat nicht begriffen, dass sich unsere Gesellschaft radikal verändert hat. Etwa ein Viertel von Österreichs Schülern und Schülerinnen hat Migrationshintergrund. Es war schon immer ein Problem, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten ungeachtet ihrer tatsächlichen Potentiale vornehmlich in den Haupt- und Sonderschulen landeten. Das wird durch die Zuwanderung von Familien mit nichtdeutscher Umgangssprache sehr viel deutlicher, als es bislang der Fall war.
Übrigens: Wer waren denn die anderen „jungen Wilden“, die in der ÖVP 1975 die Gemeinsame Schule sogar programmatisch durchgesetzt haben? Bernd Schilcher nennt seine damaligen Mitstreiter: Neben dem bis heute ausgewiesenen Schulexperten Rupert Vierlinger waren es Wolfgang Schüssel und Fritz Neugebauer.

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