Sollen wir die Neutralität aufgeben? In einem von durchwegs honorigen Persönlichkeiten unterschriebenen Brief wird das mehr oder weniger gefordert. „Mehr oder weniger“ – nicht ganz untypisch für Österreich: Vor einer klaren Positionierung drücken sich die Unterzeichner:innen nämlich. Unter dem Titel „Rein in die NATO?“ habe ich dazu in den Vorarlberger Nachrichten einen Kommentar verfasst. Hier zum Nachlesen:
Der Ukrainekrieg verursacht nicht nur unfassbares menschliches Leid – er stellt auch vermeintliche Gewissheiten infrage. Schweden und Finnland wollen ihren neutralen Status aufgegeben und NATO-Mitglieder werden. Sollten wir in Österreich diesem Beispiel folgen?
Nun haben sich 40 durchwegs hochangesehene Persönlichkeiten gefunden, die in einem „offenen Brief“ eine „Debatte ohne Scheuklappen“ einfordern – um sogleich am eigenen Anspruch zu scheitern. Sie stufen nämlich die Neutralität als „anachronistisch“ ein, fordern aber nicht ihre Abschaffung. Was also? Eine Diskussion ohne Diskussionsanstoß?
Neutralitätsgesetz
Am 26. Oktober 1955 hat der Nationalrat die „immerwährende Neutralität“ beschlossen. Im Artikel I heißt es, der Beschluss werde „aus freien Stücken“ gefasst. Wenn Freiwilligkeit extra betont wird, muss man genauer hinschauen. Das gilt auch in diesem Fall.
Österreich wollte damals unbedingt ein Ende der Besetzung unseres Landes durch die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Diese waren gesprächsbereit, stellten aber Bedingungen. Die damalige Sowjetunion etwa wollte verhindern, dass Österreich der NATO beitritt und verlangte dafür Garantien.
Österreich unterzeichnete daher am 15. April 1955 das „Moskauer Memorandum“ und gab die Zusicherung einer „immerwährenden Neutralität“ nach dem Vorbild der Schweiz. So ganz „aus freien Stücken“ war der Beschluss im Nationalrat vom Oktober 1955 also nicht.
Spiel mit dem Feuer
Natürlich hat sich durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine die Sicherheitslage in Europa geändert. Im Gegensatz zu Österreich haben Schweden und Finnland keine völkerrechtlichen Verträge unterschrieben, die einem NATO-Beitritt widersprechen. Ist es heute in Österreich klug, in dieser angespannten Situation und als Standort internationaler Organisationen wie der UNO oder der OSZE an der Neutralität zu rütteln? Oder ist das ein Spiel mit dem Feuer?
Man sollte sich die Geschichte des Staatsvertrages sowie die rechtlichen Verpflichtungen, die Österreich eingegangen ist, um ihn überhaupt zu ermöglichen, in Erinnerung rufen, bevor man allzu schnell die Grundlagen des Staatsverständnisses vieler Österreicherinnen und Österreicher über Bord wirft.
Sollen wir also die Neutralität aufgeben und wie Schweden und Finnland eine NATO-Mitgliedschaft anstreben? Von den Unterzeichnern der Petition fehlt eine Positionierung. Ein Mehr an Sicherheit wäre damit jedenfalls nicht verbunden – schon heute sind wir ja von NATO-Staaten umgeben. Ein internationaler Bedeutungsgewinn unseres Landes wäre ebenso wenig zu erwarten – vielmehr stünde unser Status als neutraler Boden für Verhandlungen und internationale Verständigung infrage. Solange nicht über innereuropäische Sicherheitsarchitektur diskutiert wird, sollten wir daher nicht an einem Grundpfeiler unserer Verfassung rütteln.