Das Märchen von den „Leistungsträgern“

2015-07-26T17:07:17+02:0026.07.15, 16:39 |Kategorien: Arbeit und Wirtschaft, Gesellschaft|Tags: , |

vermoegen-schulden„Es ist auch deshalb schwer, Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitsloseneinkommen fast genauso hoch ist wie das Arbeitseinkommen. In Deutschland gibt [es] mit Hartz IV ein Modell, das offenbar besser funktioniert.“ Und, so führte Finanzminister Hans Jörg Schelling in einem Standard-Interview weiter aus: „Leistung muss belohnt werden, das ist nichts, was einem zusteht. (…) Wir haben uns zu einer Neidgesellschaft entwickelt. Neid muss man sich aber verdienen, Mitleid bekommt man umsonst.“

Diese Äußerungen sind nun wirklich bemerkenswert, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Dass Schelling nicht weiß, wie sich das Arbeitslosengeld berechnet, ist kaum zu glauben. Falls doch, empfehle ich ihm die Lektüre der erhellenden Ausführungen von Bernhard Madlener: „Weltfremde Politik: Die Mär vom faulen, reichen Arbeitslosen“

Ob sich Schellings Interpretation des einkommensmäßigen Unterschieds daraus erklären lässt, dass für ihn ein paar hundert Euro (oder auch mehr) auf oder ab tatsächlich Peanuts sind, weiß ich nicht – aus dieser Sicht hätte sie wenigstens eine gewissen Logik. Fakt ist: Wir haben in Österreich die höchste Arbeitslosenzahl seit Ende der Nachkriegszeit – Tendenz steigend. Wenn Schelling nun wirklich meint, dass mehr als 400.000 Menschen deshalb nicht für den Arbeitsmarkt zu rekrutieren sind, weil sie zu viel Geld erhalten, ist seine Aussage als blanker Zynismus zu werten. Falls er sie wider besseren Wissens von sich gegeben hat, stößt sie genau in die Richtung, die er vorgibt zu bedauern: Er schürt eine Neiddebatte, aber just auf Kosten der vielen Tausend, die heilfroh wären, würden sie einen Arbeitsplatz finden.

Wenn Schelling nun auch noch das von der ÖVP so hochgelobte Leistungsethos strapaziert, dann platzt mir endgültig der Kragen. Die ÖVP, die sich strikt weigert, Vermögen höher zu besteuern oder Personen, die (viel!) erben und deren Leistung ausschließlich daraus besteht, dass sie in die richtige Familie geboren wurden, überhaupt zu besteuern oder auf einem Schulsystem beharrt, das nachweislich soziale Ungleichheit produziert, täte sehr gut daran, ihren Leistungsbegriff zu hinterfragen. Stattdessen aber wünscht sich Schelling das Hartz IV-Modell, das Deutschland zu einem Niedriglohnland katapultiert und Heerscharen in die Armut getrieben hat, darunter mehr als 1,5 Millionen Kinder, die in Hartz IV-Familien aufwachsen müssen. Schelling heizt damit auch einen Diskurs an, der Arbeitslose verbal in die „soziale Hängematte“ befördert und dessen Credo lautet: Arbeitslos sind nur die Faulen, die wirklich Leistungsbereiten schaffen den ökonomischen Aufstieg. Oder wie es der Armutsforscher Christoph Butterwegge anders formuliert: „Hartz IV hat in erheblichem Ausmaß zur sozialen Entrechtung, Entsicherung und Entwertung eines wachsenden Bevölkerungsteils beigetragen, der besonders in einer wirtschaftlichen Krisensituation als ‚unproduktiv’ und ‚unnütz’ gilt. (…) Arbeitslosengeld-II-Bezug wiederum erscheint weniger als Problem für die Betroffenen selbst – es ist ein Problem für den ‚Standort Deutschland’ geworden. Der soll durch die rasche Eingliederung der Armen in den Arbeitsmarkt noch konkurrenzfähiger gemacht werden. Und die Menschen? Ach – die Menschen.“

Schelling und den Apologeten des neoliberalen Leistungsbegriffs widme ich ein paar Zeilen des deutschen Kabarettisten Dietrich Kittner: „Es war einmal ein Mann, der hatte es allein durch seiner Hände Arbeit zu großem Reichtum gebracht. Und morgen, liebe Kinder, erzähle ich Euch ein anderes Märchen.“

(Grafik: http://www.attac.at/vermoegensuhr.html, Stand 26.7.2015, 10h00)