Statt Inklusion – ein Bildungsweg voller HĂŒrden

©Philipp Horak
Im gestrigen Unterrichtsausschuss ging’s inhaltlich zur Sache. Und es wurde konkret. Mit der Erlaubnis des Vaters und in Absprache mit ihm hier die konkrete Geschichte eines Kindes:
Als die Zeit der Anmeldung fĂŒr die Volksschule nĂ€her rĂŒckt, ist den Eltern klar: âEmil soll in die gleiche Schule gehen, die auch sein groĂer Bruder besucht.â Als Geschwisterkind mĂŒsste die Anmeldung nur ein Formalakt sein. Doch weit gefehlt. Bei der Einschreibung bekommen Emils Eltern die Auskunft, dass ihr Sohn nur unter MaĂgabe der zur VerfĂŒgung stehenden SonderschullehrerInnenstunden am Schulstandort  aufgenommen werden kann. Schon sein bisheriger Bildungsweg war gespickt mit âNeinsâ und HĂŒrden, denn Emil hat das Down Syndrom. âOb Emil nicht besser in einer Sonderschule aufgehoben wĂ€reâ, fragt die Direktorin? âNein!â Die Eltern sind entschieden dagegen. Emil soll an der Gesellschaft teilhaben, mit Gleichaltrigen gemeinsam aufzuwachsen in einer Umgebung, die so divers ist, wie die Menschheit! Das wollen sie fĂŒr beide Söhne, fĂŒr den mit Down Syndrom genauso wie fĂŒr den ohne.
WĂ€re Emil in SĂŒdtirol zuhause, hĂ€tten sich diese Fragen gar nicht erst gestellt. In SĂŒdtirol hat jedes Kind das Recht, die nĂ€chstgelegene Volksschule zu besuchen. Hat das Kind z.B. auf Grund einer Erkrankung oder einer Behinderung einen besonderen Bedarf, so muss die Schule dafĂŒr Sorgen tragen, dass alle Voraussetzungen erfĂŒllt werden, um den Schulbesuch zu ermöglichen. Persönliche Assistenz, eine sonderpĂ€dagogisch ausgebildete Lehrkraft, ein individueller Lehrplan oder RĂŒckzugsrĂ€ume? Alles kein Problem!
Der Kleine durfte schon nicht den Kindergarten ums Eck besuchen. Seine Eltern mussten ihn der Bezirkspsychologin vorstellen, die Emil einen geeigneten Platz zuweisen wĂŒrde. Aber warum ist der Kindergarten, den Emils groĂer Bruder besucht und wo er schon erste Kontakte zu Kindern und Betreuerinnen geknĂŒpft hat, nicht geeignet?
Und jetzt auch noch Probleme mit der Volksschule. Wieder eine Begutachtung – diesmal im Zentrum fĂŒr Inklusiv- und SonderpĂ€dagogik. Schule ist bei uns individualzentriert und nicht systemzentriert, d.h., das Kind muss beweisen, wo es reinpasst, und nicht das System muss zur VerfĂŒgung stellen, was das Kind braucht. Im Grunde können Eltern die Schule fĂŒr ihr Kind frei wĂ€hlen. War ein Geschwisterkind bereits in der Volksschule, wird man quasi automatisch aufgenommen â im Falle einer Behinderung ist es aber davon abhĂ€ngig, ob genĂŒgend Kinder mit einer Behinderung angemeldet sind und ein/e SonderschullehrerIn auch in der jeweiligen Volksschule zugeteilt werden kann. Nach kurzem bangem Warten hatte Emil den Wunschplatz.
Die vielbeschworene Wahlfreiheit haben Eltern behinderter Kinder nicht. Wollen sie ihr Kind nicht in eine Sonderschule geben, sondern ihnen die Entwicklung in einer diversen und durchaus herausfordernden, dafĂŒr aber lebensnahen Umgebung ermöglichen, mĂŒssen sie viele Kompromisse eingehen, Behördenhindernisse ĂŒberwinden, Ăberzeugungsarbeit leisten und sich vielfach auch im eigenen Umfeld rechtfertigen. Denn obwohl Ăsterreich die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat und Kinder ein Recht auf inklusive Bildung haben, ist sie noch lange nicht selbstverstĂ€ndlich.
Immerhin kann Emil die Nachmittagsbetreuung an der Schule besuchen. Das ist nicht selbstverstĂ€ndlich, denn die Betreuung wird nicht von der Schule selbst, sondern von einem Verein organisiert. Wieder mĂŒssen mindestens vier Kinder mit Behinderung fĂŒr die Nachmittagsbetreuung angemeldet sein, damit eine zusĂ€tzliche Person bereitgestellt wird. Sind es weniger, ist die Betreuung nicht möglich. Jedes Jahr also neuerliches Bangen, ob genĂŒgend Kinder angemeldet sind.
TatsĂ€chlich ist die Frage, ob es eine geeignete Betreuung am Nachmittag gibt, eines der gröĂten Hindernisse bei der Inklusion. Bieten die Sonderschulen doch eine Rundumbetreuung, inklusive Fahrtendienst und Therapieangeboten. In Regelschulen ist das nicht immer und wenn, dann nur nach Ăberwindung vieler HĂŒrden möglich.
In Modellregionen zur Inklusiven Schule sollen gemeinsame Lern- und LebensrĂ€ume entstehen. Vorreiter in Ăsterreich ist derzeit KĂ€rnten. Dort sind in sieben von zehn Bezirken die Sonderschulen abgeschafft. Jedes Kind besucht eine wohnortnahe Regelschule, die SonderpĂ€dagogik, Therapien, Betreuung und Pflege anbietet. Bei Bedarf können Kleingruppen eingerichtet werden oder Time-Out-RĂ€ume aufgesucht werden. Das Land hat seine KrĂ€fte gebĂŒndelt und stellt alle Mittel, die fĂŒr die Betreuung und Beschulung von SchĂŒlerInnen mit Behinderungen zur VerfĂŒgung stehen, den Schulen bereit. Die zustĂ€ndige Landesschulinspektorin Dr. Dagmar Zöhrer antwortet im Ausschuss daher auf die Frage, ob denn wirklich jedes Kind eine Inklusive Schule besuchen kann, sehr bestimmt mit: âJa. Man muss nur wissen, was man braucht.â
Emil wohnt nicht in KĂ€rnten. Sein HĂŒrdenlauf ist noch nicht vorbei. Denn mit dem Wechsel von der Volksschule in die Neue Mittelschule endet fĂŒr den ElfjĂ€hrigen die Möglichkeit der Inklusiven Nachmittagsbetreuung. Im Zentrum fĂŒr Inklusiv- und SonderpĂ€dagogik bekamen Emils Eltern die Auskunft: âSie können Emil in die Sonderschule geben oder er kann, bis er zwölf ist, mit dem Fahrtendienst in den Sonderhort gefĂŒhrt werden. Ab da muss er nach der Schule abgeholt werden.â Eine klare behördliche Diskriminierung.
Mit Hilfe des Elternvereins und der LehrerInnen, mit vielen Unterschriften in einer Onlinepetition, mit vielen E-Mails, mit GesprĂ€chen und vielen Telefonaten gelang es, die Nachmittagsbetreuung fĂŒr Emil zu erkĂ€mpfen. 2016 war er das erste Kind mit SonderpĂ€dagogischem Förderbedarf, das dies darf. Sein Vater drĂŒckt es so aus: âWir verstecken unsere Mitmenschen mit Behinderungen vor der Gesellschaft. Wir fĂŒhren sie von einer Sondereinrichtung mit einem eigenen Fahrtendienst in die nĂ€chste Sondereinrichtung.â
Obwohl Emil fĂŒr seine Entwicklung lĂ€nger braucht als Gleichaltrige, ist seine Schulzeit voraussichtlich wesentlich kĂŒrzer. Sie endet fĂŒr ihn nach der 9. Schulstufe. Nur in der Sonderschule könnte er noch ein bis zwei weitere Jahre verbleiben, bevor er eine Lehre beginnen mĂŒsste. Denn auch fĂŒr Emil gilt die Ausbildungspflicht, ein Recht auf einen Ausbildungsplatz oder den Schulbesuch bis 18 hat er aber nicht. Dabei ist es doch das Ziel aller InklusionsbemĂŒhungen, dass alle Menschen ihren Platz in der Gesellschaft finden.
âWir wĂŒnsche uns fĂŒr unseren Sohn eine Gesellschaft, die mit seiner Behinderung umgehen kann und ihn nicht diskriminiert und dass er mit seiner Behinderung in der Gesellschaft gut zurechtkommtâ, sagt Emils Vater.
Auch die Gesellschaft muss den Umgang mit Menschen mit Behinderungen (wieder) lernen. Die MitschĂŒlerInnen von Emil werden spĂ€ter seine ArbeitskollegInnen oder KundInnen, seine Vorgesetzten oder NachbarInnen sein. Sie profitieren davon, wenn sie von klein auf mit der DiversitĂ€t ihrer Mitmenschen aufwachsen. Wenn sie erfahren, dass jemand anders und doch genauso wertvoll sein kann. Nichts anderes bedeutet Inklusion: Die Menschen nehmen, wie sind.