Gastbeitrag: „Landplage“ (Sabine Wallinger)

2016-02-17T12:43:57+01:0012.02.16, 11:54 |Kategorien: Geschichte und Rechtsextremismus|Tags: , , , , , |

gusen_befreiung

Mai 1945. Nach der Befreiung des Mauthausener Nebenlagers Gusen irren ausgemergelte und völlig erschöpfte Häftlinge, leicht zu erkennen an gestreifter Uniform und skelettartiger Auszehrung, durch die Felder rund um Sankt Georgen an der Gusen. Sie suchen Schutz bei den umliegenden Bauernhöfen, bitten um Essen. Viele Türen bleiben verschlossen, andere Bäuerinnen und Bauern zeigen Barmherzigkeit und reichen den vom Tode Gezeichneten Suppe und Kartoffeln. Tragischer Weise werden etliche von ihnen gerade daran sterben, weil ihr Körper mit der ungewohnten Nahrung nach langer Entbehrung nicht mehr fertig wird.

Im Lager Gusen, einer der betriebswirtschaftlichen Dependancen des KZ Mauthausen, wurden Kriegsgefangene aus vielen europäischen Ländern, Spanier, Slowenen, Tschechen, Belgier, Franzosen, Italiener, Polen, Russen, Ungarn, aber auch Juden und andere verfolgte Gruppen systematisch durch Schwerstarbeit zu Tode geschunden, vorwiegend im Steinbruch und im viele Kilometer langen Stollenbau „Bergkristall“, wo das deutsche Jagdflugzeug Messerschmitt 262 gefertigt wurde, sowie im Bahn-, Hafen- und Straßenbau. Es sind Straßen, die wir heute noch befahren, Bahnlinien, die noch in Betrieb sind. Nur die Me 262 fliegt nicht mehr. Durch das Prinzip „Vernichtung durch Arbeit“ war im Lager Gusen bis auf eine improvisierte Vergasungsbaracke keine Gaskammer vonnöten, dafür ein umso größeres Krematorium mit mehreren Brennöfen. Die Zahl der in Gusen Ermordeten beläuft sich auf etwa 35.000, das sind etwa 50% der dort inhaftierten Menschen.

Diese vielen Tausend haben kein Grab. Ihre Asche wurde in die Gusen gekippt und auf den Feldern als Dünger verstreut, weswegen der Verband „Schwarzes Kreuz“, welcher der Kriegsopfer gedenkt, sie zur St. Georgener Allerheiligenfeier mit keinem Wort erwähnt. Genauso wenig, wie sich für sie am dortigen Friedhof eine Gedenktafel fände. Tafeln, die an die Ermordeten erinnern, sieht man nur beim Krematorium, der einzigen Stelle, wo die Angehörigen den Tod ihrer Lieben verorten können. Das Krematorium befindet sich am Eingang der Wohnsiedlung, die nach dem Krieg auf den Fundamenten der Häftlingsbaracken errichtet wurde. Viele Kerzen brennen rund um die rostenden Brennöfen, viele Blumen und Kränze werden hingelegt, nicht nur zu Allerheiligen. Auch die Gedenktafeln wurden von den Angehörigen und den wenigen Überlebenden angebracht, nicht von offizieller Seite.

Doch wenigstens ein Grab eines Gusener KZ-Opfers existiert tatsächlich, und das kam so: Am Tag nach der Befreiung, es muss der 6. Mai 1945 gewesen sein, wankt ein Häftling den Uferweg an der Gusen entlang, weg vom Lager. Auf der Höhe eines Bauerngehöftes, wo er vermutlich Unterstand suchen wollte, wird er von einem SS-ler, noch in Bewaffnung und Uniform, erschossen. Der Bauernsohn, damals ein Kind, beobachtet den Vorfall: Gemächlich dahingetrabt sei er, der Schütze, habe, ohne seinen Lauf merklich zu verlangsamen, die Pistole gezogen und abgedrückt. Und gut gezielt. Der Schuss trifft den Häftling direkt über der Nasenwurzel, er ist sofort tot. Der SS-ler setzt seinen Lauf fort und verschwindet von der Bildfläche. Ob er noch sein gewohntes Lauftraining absolvierte oder schon auf der Flucht war, weiß man nicht. Ob er den Mann aus verspäteter „Pflichterfüllung“ oder aus sportlichen Motiven erschoss, wird nie zu klären sein, geschweige denn die Identität des Mörders. Man kann davon ausgehen, dass es ihm jedenfalls auf einen Mord mehr oder weniger nicht mehr ankam. Vielleicht wollte er einen Zeugen beseitigen oder nur die Gegend von der „Landplage“ der umherirrenden KZ-Häftlinge befreien. Auch die Identität des Ermordeten bleibt unbekannt. Später, erzählt der Bauer, kamen ein paar andere Häftlinge dazu und betrauerten ihn in einer fremden Sprache. Sie habe nach Polnisch geklungen, darum könnte es sich um einen Polen gehandelt haben. Oder auch nicht. Beide, der Mörder und sein Opfer, sind untergetaucht, jeder auf seine Weise, der eine im Zivilleben, der andere in der Erde.

grab_unbekannter haeftling_gusenSein Vater, erzählt der Bauer, habe seine Kinder, die das Loch in der Stirn des Mannes anstarrten, weggescheucht und den Erschossenen zusammen mit den dazugekommenen KZ-lern an Ort und Stelle begraben. Gebete wurden gesprochen. Später habe er darauf einen Stein setzen und eine Inschrift hineinmeißeln lassen „Zum Gedenken dem hier begr. KZ-Häftling, erschossen am Tag nach der Befreiung“. Das Grab befindet sich heute noch dort, im Gestrüpp am Uferweg der Gusen. Kein Angehöriger des Toten weiß davon.

Doch vielleicht trägt seine Erwähnung dazu bei, die Erinnerung des Rechtsschutzbeauftragten Herrn Dr. Gottfried Strasser an die „Landplage“ der befreiten KZ-Häftlinge in Mauthausen und Umgebung ein wenig zurecht zu rücken. Am Weltbild der „Aula“ wird wohl nicht zu rütteln sein.

© Sabine Wallinger 11. Feber 2016

Foto 1: Befreiter KZ-Häftling des Lagers Gusen am 12.5.1945 (https://www.archives.gov/press/press-kits/picturing-the-century-photos/images/sam-gilbert-camp-gusen.jpg)
Foto 2: Sabine Wallinger, Grab unbekannter KZ-Häftling, erschossen am Tag nach der Befreiung