âDu unterrichtest in einer NMS in Wien?â … und dann beginne ich zu erzĂ€hlen (Gastbeitrag)
In den Klassen sitzen verschiedene Kinder. Kinder mit guten Deutschkenntnissen und schlechten Mathematikkenntnissen, Kinder mit groĂem Interesse fĂŒr Naturwissenschaften und weniger groĂem Interesse fĂŒr Englisch, Sportskanonen, Beatboxer, Youtuber, ZauberkĂŒnstler, ⊠darunter Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder ohne Migrationshintergrund, Kinder mit sonderpĂ€dagogischem Förderbedarf, MĂ€dchen mit knallbuntgefĂ€rbten Haaren, MĂ€dchen mit KopftĂŒchern, Buben, die mit dem Longboard zur Schule fahren. Einige haben Börek in ihrer Jausenbox, andere haben heute unglĂŒcklicherweise schon wieder Chips mit. Matthias hat heute seinen SpindschlĂŒssel vergessen. Aber er kann seine Schuhe in den Spind von Ayse stellen âŠ
âHabt ihr wirklich so viele AuslĂ€nder?â â âNaja, die meisten sind österreichische StaatsbĂŒrger. Viele haben Migrationshintergrund âŠ.â â âHast du auch FlĂŒchtlinge? Jetzt wollen sie ja auch die Sonderschulen abschaffen, habâ ich gehört!?â Dann beginne ich zu erzĂ€hlen, was meine SchĂŒler ausmacht, dass jeder und jede von ihnen ganz besonders ist und wie sehr ich das Zusammenkommen der unterschiedlichen Kulturen liebe.
Aber nicht alle finden das so toll wie ich. Es macht ja schlieĂlich auch viele Probleme! âWas tust du eigentlich, wenn dir jemand wegen seiner Religion nicht die Hand geben will, weil du eine Frau bist?â â âDas kam bei mir noch nie vor …â â âAber wenn es mal vorkommt? Was wĂŒrdest du dann machen?â â âDann wĂŒrde ich mit der Person das GesprĂ€ch suchen und eventuell jemanden dazu holen, der in dieser Angelegenheit gut vermitteln kann.â â âUnd wen?â â âUnseren Direktor zum Beispiel. Oder den islamischen Religionslehrer. Der spricht ĂŒbrigens flieĂend Deutsch und Arabisch und ist bei vielen ElterngesprĂ€chen in seiner Freizeit dabei, um zu ĂŒbersetzen.â
An meiner Schule haben wir ein tolles Team. Die Antworten auf Probleme suchen wir gemeinsam. Wir greifen einander unter die Arme. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen inspirieren mich und sind Vorbilder fĂŒr mich. Unser Lehrerzimmer ist so etwas wie eine Oase, wo du Kraft tankst und aufgebaut wirst, wenn irgendetwas nicht nach Plan gelaufen ist. Als Junglehrerin kommt das vor. Leider ist das aber nicht ĂŒberall so. Von befreundeten Kolleginnen an anderen Schulen höre ich oft von Frustration und Ăberforderung, die auf die Stimmung im Kollegium drĂŒckt. Das macht den Alltag vielerorts nicht gerade zum Zuckerschlecken, wo es dann vorwurfsvoll heiĂt: âDeine Klasse hat schon wieder ⊠â.
Die Neue Mittelschule ist per Definition eine Gesamtschule. Es wird versucht, die SchĂŒler/innen nach ihren StĂ€rken zu fördern und sie nach Möglichkeit auf AHS-Niveau zu unterrichten, um die DurchlĂ€ssigkeit nach der 4. Klasse dorthin zu erhöhen. In denselben KlassenverbĂ€nden werden auch Kinder mit sonderpĂ€dagogischem Förderbedarf beschult, und wir versuchen, sie bestmöglich in ihrer Entwicklung zu unterstĂŒtzen. FĂŒr unsere Neuankömmlinge in Ăsterreich, viele davon anerkannte FlĂŒchtlinge, werden Deutschkurse abgehalten, und wir versuchen ihnen einen erfolgreichen Einstieg in unser Bildungssystem zu ermöglichen.
Um der Meinung zu sein, dass es funktionieren kann, Kinder mit so vielen unterschiedlichen BedĂŒrfnissen in einer Klasse gemeinsam und noch dazu erfolgreich zu unterrichten, braucht es keineswegs nur Idealismus. Es braucht innovative Konzepte und Mut zur VerĂ€nderung in einem verkrusteten System. Vielerorts haben wir uns gottseidank schon vom ausschlieĂlichen Frontalunterricht und vom Bild der Lehrpersonen als EinzelkĂ€mpfer/in verabschiedet. Bei uns in der Schule stehen zumindest in den HauptfĂ€chern Teams in den Klassen. Zu Spitzenzeiten sind das bis zu drei Lehrer/innen pro Klasse. Dabei nĂŒtzen wir auch die rĂ€umlichen Ressourcen unseres SchulgebĂ€udes bis ins letzte Eck aus. Wir sprechen uns bezĂŒglich der Unterrichtsgestaltung im Vorhinein miteinander ab und versuchen mit Herz und Verstand das Beste aus den SchĂŒler/innen herauszuholen.
Und trotzdem kommt es auch bei uns in der Schule vor, dass nicht alles immer so lĂ€uft, wie wir das gerne hĂ€tten. Oft bleibt es eben nur beim Versuch, etwas zu schaffen. Beim Versuch, die SchĂŒler nach ihren individuellen StĂ€rken zu fördern. Beim Versuch, auf alle BedĂŒrfnisse RĂŒcksicht zu nehmen. Beim Versuch, immer fair zu sein. Beim Versuch, Probleme nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen und sie nicht mit nach Hause zu nehmen. Je mehr Energie man in etwas gesteckt hat, desto gröĂer auch die Frustration.
Wichtig ist, in diesen Situationen nicht alleine zu sein. In unserer Schule steht die TĂŒr zur Direktion aus diesem Grund immer offen, und wir werden nicht mĂŒde zu betonen, alle im selben Boot zu sitzen. Die Beratungslehrerin mĂŒssen wir uns zwar mit einer anderen Schule teilen, doch ihre professionelle und menschliche UnterstĂŒtzung ist unverzichtbar. Beratung kann zudem alle zwei Wochen bei der Schulpsychologin eingeholt werden. Auch mobile Sozialarbeiter/innen werden in EinzelfĂ€llen hinzugezogen. Nicht die QualitĂ€t, sehr wohl aber das AusmaĂ dieser UnterstĂŒtzungsformen wĂ€re ausbaufĂ€hig. Sinnvoll wĂ€re sicherlich Verwaltungspersonal an Schulen, um die Zeit in der Schule als Lehrer/in auch wirklich mit den SchĂŒler/innen zu verbringen, anstatt in den Pausen zwischen TĂŒr und Angel den Kopierer zu warten oder am Telefon Krankmeldungen entgegenzunehmen.
Die Herausforderungen werden in den nĂ€chsten Jahren sicher nicht weniger werden. Aktuell beschĂ€ftigt das Thema Inklusion die Bildungspolitik. Eine Abschaffung der Sonderschulen steht im Raum â ebenso der Ausbau von ganztĂ€gigen Schulformen. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt sind unsere Ressourcen, sowohl rĂ€umlich als auch personell, sehr knapp bemessen. Um die derzeitigen und kĂŒnftigen Herausforderungen meistern zu können, braucht es daher aus meiner Sicht genĂŒgend motiviertes und gut ausgebildetes Personal sowie rĂ€umliche VerhĂ€ltnisse in den Schulen, die den BedĂŒrfnissen der Menschen entsprechen, die sich dort entfalten sollen. Und das muss noch kommen, bevor weitere Herausforderungen anstehen.
Autorin: Julia Holzer
Julia Holzer ist Jahrgang 1992 und unterrichtet seit September 2013 in einer Neuen Mittelschule in Wien Floridsdorf. Berufsbegleitend studiert sie Psychologie an der UniversitÀt Wien.