Abnormale „Normalität“
Unermesslicher und zugleich überproportional steigender Reichtum bei einer verschwindend kleinen Minderheit – und gleichzeitig zunehmende Armut bei einer immer größeren Gruppe von Menschen: Das darf nicht als „Normalität“ akzeptiert werden! Unter dem Titel „Obszöne ‚Normalität‘“ habe ich dazu in den Vorarlberger Nachrichten einen Kommentar verfasst. Hier zum Nachlesen:
Die USA gelten gemeinhin als das „kapitalistische Kernland“. Umso bemerkenswerter, dass letzte Woche US-Präsident Joe Biden von einer „fehlgeleiteten Wirtschaftsphilosophie“ gesprochen hat: „Kapitalismus ohne Wettbewerb ist kein Kapitalismus. Es ist Ausbeutung. Die Leute sind es leid, für dumm verkauft zu werden.“
Wer diese Entwicklung stoppen will, muss Kontrollen installieren und den Monopolen an den Kragen. Biden hat daher Gesetzesinitiativen gestartet, die strengere Vorgaben für Firmenübernahmen und Fusionen vorsehen. Ob die USA dazu angesichts der Macht großer Konzerne noch in der Lage sein werden, wird die Zukunft zeigen. An Vermögenssteuern oder höhere Steuern für Bestverdiener traut er sich jedenfalls – noch – nicht.
Obszöner Reichtum
Der österreichische Ökonom Kurt Bayer warnt allerdings davor, in höheren Steuern für Vermögen und Erbschaften ein Allheilmittel zu sehen, denn die Reichen seien mit ihren Steuerberatern den Steuerbehörden immer mindestens einen Schritt voraus. Er plädiert dafür, das Problem grundsätzlicher anzugehen.
Der ehemalige Direktor der Weltbank verweist darauf, dass das durchschnittliche Jahreseinkommen der Geschäftsführer von S&P-500-Technologie-Unternehmen während der Coronakrise um 17 Prozent auf 15 Milliarden US-Dollar gestiegen ist – bei gleichzeitiger Stagnation der Gehälter der Angestellten. Man müsse das Entstehen obszön hoher Einkommen und die Kapitalkonzentration in den Händen weniger verhindern, statt nachträglich über eine Besteuerung nachzudenken. Gleichzeitig lehnt er aber höhere Vermögens- und eine Erbschaftssteuer keineswegs ab.
Alle Statistiken zeigen, dass sich Einkommens- und Vermögensverteilungen in den letzten Jahrzehnten massiv zugunsten der Reichen verschoben haben. Seit 1990 konnten Aktienbesitzer ihren Reichtum um den Faktor fünf vermehren, das Bruttoinlandsprodukt stieg nur um den Faktor zwei.
Politik ist gefordert
Das ist doppelt problematisch: Zum einen gerät der gesellschaftliche Zusammenhalt ins Wanken, wenn die einen Milliarden und die anderen fast nichts besitzen. Zum anderen gewinnen politische Rattenfänger massiv an Zuspruch.
Letztere verwenden ebenso einfache wie falsche Parolen und treiben die Spaltung der Gesellschaft in angeblich „normal Denkende“ und offensichtlich „Abnormale“ voran, statt über die wahren Probleme zu sprechen. Bundespräsident Alexander van der Bellen hat das bei der Eröffnung der Bregenzer Festspiele zurecht angeprangert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den USA einen enormen Wirtschaftsaufschwung. Profitiert haben jahrzehntelang alle, weil hohe Einkommen mit bis zu 90 Prozent besteuert wurden und der Staat dafür sorgen konnte, dass für alle etwas abfällt. Ab 1986 änderte sich das unter Ronald Reagan. Der Höchststeuersatz sank schrittweise auf 28 Prozent. Joe Biden stimmte damals als Abgeordneter dieser Entwicklung zu. Heute leiden er und die Bevölkerung darunter. „Normal“ ist das nicht. Darüber sollten Nehammer, Mikl-Leitner & Co. nachdenken.